- Bettina Grill
Transgenerationales Trauma – wenn Lebensereignisse der Eltern unser Leben beeinflussen
Haben Ihre Eltern oder Großeltern in der Kindheit schwierige Lebenssituationen erlebt, beispielsweise Kriegserlebnisse, zerrüttete Familien, Unfälle oder andere traumatische Situationen?
Dann könnte das Thema der transgenerationalen Traumata für Sie von Interesse sein!
Denn zum einen können die Folgen dieser Erlebnisse genetisch weitergegeben werden, zum anderen prägen sie das Zusammenspiel von unseren Eltern und uns bei unserem Start ins Leben.
Erfahren Sie in diesem Artikel, wie sich transgenerationales Trauma auswirkt, und wie Sie sich davon befreien können!
Inhalt dieses Artikels:
1. Was ist transgenerationales Trauma?
Transgenerationales Trauma entsteht, wenn prägende traumatische Erfahrungen von einer Generation auf die nächste übertragen werden.
Soziales Leid oder emotionaler Schmerz, die mit dem Trauma verbunden sind, werden dann erst von einer späteren Generation erlebt, gefühlt und im Idealfall überwunden.
2. Wie entsteht transgenerationales Trauma?
Transgenerationales Trauma tritt auf, wenn:
Belastungserfahrungen und emotionaler Schmerz von einem Menschen nicht verarbeitet werden können,
im Nervensystem und Körpergedächtnis eingespeichert werden,
und später auf die eigenen Kinder und damit die nachfolgende Generation übertragen werden.
Dadurch, dass die Betroffenen nicht die Möglichkeit hatten, ihre Erfahrungen angemessen zu verarbeiten, lagern sich diese vor allem auf körperlicher Ebene, aber auch im Familiensystem ein.
Das Leben der Kinder und eventuell auch noch der Enkel kann somit beeinflusst sein durch leidvolles Erleben der Vorfahren.
Betroffen sind zunächst vor allem Babys und Kinder, die einfach noch nicht die Ressourcen haben, traumatisch wirkende Erlebnisse zu verarbeiten, und die sich dafür auch nicht aus eigener Kraft Hilfe holen können.
Ein Beispiel wäre, wenn eine Mutter ein Kind nicht oder nicht ausreichend versorgen kann, selber krank ist oder das Kind abgibt.
Dann kann die Mutter keine nährende Beziehung zum Baby aufbauen, Verlassenheits- und Ohnmachtsgefühle bis hin zu Todesängsten können bei dem Baby die Folge sein.
Dieses Trauma bleibt dann unverarbeitet in dem Baby erhalten, kapselt sich ab und verändert sich oft auch nicht, wenn dieser Mensch älter wird.
Transgenerationales Trauma entsteht typischerweise, wenn Kinder folgende Erfahrungen durchleben und nicht verarbeiten können:
Kriegserfahrungen wie Gewalt, Verlust von Angehörigen oder Besitz, Vergewaltigung etc.
Gewalt in der Familie, z.B. bei Alkoholismus
früher Verlust eines oder beider Elternteile, ein Aufwachsen bei Großeltern, in einer Pflegefamilie o.ä.
Lebensbedrohliche Erkrankungen, Unfälle
emotionaler oder sexueller Missbrauch in der Kindheit
Die zentrale Problematik liegt darin, dass wir als Baby oder Kleinkind absolut abhängig sind von den Eltern. Wir benötigen ihren Schutz, ihre Zuwendung und Liebe.
Emotional stabile Eltern sind wichtig, damit Babys Urvertrauen entwickeln, und sie helfen dem Baby, sich emotional zu regulieren – sie trösten bei Aufregung und Anspannung, sie sorgen aber auch für Anregung und Erregung durch Spiel und Bewegung.
So kann das Baby im Idealfall eine große Spannbreite emotionaler Zustände in einem sicheren Umfeld kennenlernen und anschließend immer wieder in einen gelösten, zentrierten Zustand zurückkehren.
Diese Mechanismen funktionieren allerdings nur, wenn die Eltern selber in einem sicheren Umfeld leben und emotional ausgeglichen sind.
Wenn ein Baby beispielsweise zu Kriegszeiten geboren wird, sind die Eltern häufig traumatisiert durch die Umstände. Sie leben in maximaler Unsicherheit, Not und Leid, und sind dann nicht in der Lage, ihrem Kind emotionale Geborgenheit zu geben.
Dazu kommt, dass Babys und Kinder in einem Familiensystem dazu tendieren, Gefühle der Eltern zu übernehmen und für sie zu tragen. Das geschieht auf einer höheren, seelischen Ebene, wenn das Kind damit die Eltern unterstützen und ihnen Last abnehmen will.
Auch diese übernommenen Gefühle formen das Nervensystem mit, speichern sich im Körpergedächtnis ein und können für das weitere Leben prägend sein.
3. Wie macht sich transgenerationales Trauma bemerkbar?
Grundsätzlich gesehen sind die Folgen von transgenerationalem Trauma nicht von Folgen zu unterscheiden, die selbst erlebtes Trauma hinterlässt.
Besonders hellhörig sollten Sie werden, wenn Ihnen Störungsbilder oder Persönlichkeitszüge auffallen, deren Ursprung Sie sich aufgrund Ihres eigenen Lebens nicht erklären können.
Dann lohnt es sich, der Frage nachzugehen, ob es einen Menschen in Ihrer Familie gibt, der dieses Thema und die dazugehörige Gefühlslage direkt erlebt hat.
Typische Folgen von transgenerationalem Trauma können auf allen Ebenen zu finden sein:
emotional und mental: übermäßig starke emotionale Reaktionen, einschränkende Überzeugungen, Ohnmachtserleben, Wut, Hilflosigkeit etc.
psychisch: Depressionen, diffuse Ängste, Süchte, selbstverletzendes Verhalten, Schuld- und Schamgefühle usw.
gestörte zwischenmenschliche Kontakte: Hilflosigkeit, Erstarren, vorauseilende Selbstrücknahme oder Selbstunterwerfung, Gefühllosigkeit, übermäßiges Lieb-Sein, Rückzug, Vermeidungsverhalten etc.
Aber auch körperliche Störungen und Erkrankungen können auf Traumafolgen zurückgehen: Übelkeit, (Kopf-)Schmerzen, Schwindel, autoimmune und entzündliche Erkrankungen, Bluthochdruck, muskuläre Verspannungen etc.
In selteneren Fällen kommt es zu wiederkehrenden, belastenden Träumen oder beängstigenden inneren Bildern, die sich aufgrund ihres eigenen Lebens nicht erklären lassen. Wenn die Betroffenen bei ihren Ahnen nachforschen, findet sich dafür möglicherweise eine Erklärung in schlimmen Erlebnissen der Eltern oder Großeltern, zum Beispiel in Kriegserlebnissen oder anderen lebensbedrohlichen Situationen.
4. Wie erkennen Sie bei sich transgenerationales Trauma?
Leiden Sie unter psychischen Störungsbildern oder anderen Einschränkungen oder Erkrankungen, die Ihre persönliche Entfaltung hemmen?
Und haben Sie das Gefühl, dass Sie diese Einschränkungen oder Probleme "schon immer" hatten und quasi damit auf die Welt gekommen sind?
Das sind erste Hinweise, die auf eine transgenerationale Thematik hindeuten können.
Weitere Hinweise können Ihnen liefern:
Biographiearbeit – Das Leben der Eltern und Großeltern kennen
Sammeln Sie Informationen über die Lebensgeschichte oder einschneidende Erfahrungen Ihrer Eltern und Großeltern!
Auf diese Weise können Sie nachvollziehen, mit welchen Themen und Traumatisierungen diese konfrontiert waren.
Fragen Sie sich auch mit Blick auf Ihre Vorfahren:
Was bedeutete es, in genau dieser Familie groß zu werden?
Gibt es besondere Rollenverständnisse (Mann – Frau - Kind), die erfüllt werden "müssen"?
Was Schlussfolgerungen können Sie aus der sozialen Schicht und dem Bildungsniveau Ihrer Familie ziehen ? Gibt es beispielsweise unerfüllte Lebensträume? So musste mein Großvater seinem Vater in den Bergbau folgen, obwohl er gerne Medizin studiert hätte, und sein Interesse an der Medizin hat ihn bis in sein hohes Alter begleitet.
Versuchen Sie, sich in die Vorfahren einzufühlen und somit nachzuempfinden, was Ihre Vorfahren erlebt und durchlebt haben.
Historische Kenntnisse
In welcher Zeit sind Ihre Eltern und Großeltern geboren und aufgewachsen? Was für ein Zeitgeist herrschte damals, was hat man über Kinder und die Erziehung gedacht?
Beschäftigen Sie sich mit diesen Zeiten – Sie können Bücher lesen, Dokumentationen anschauen oder auch Zeitzeugenberichte verfolgen.
Schauen Sie insgesamt, was in Ihnen eine Resonanz auslöst, was Sie anspricht oder auch besonders abstößt – hinter beidem können sich Informationen befinden, die wertvolle Hinweise auf Ihre eigenen Lebensthemen geben.
Möglicherweise ist es dann so, dass Sie etwas über historische Ereignisse erfahren und in Ihnen das Gefühl entsteht, "die reden über mich bzw. meine Eltern". Vielleicht wird Ihnen auch schlagartig irgendein Zusammenhang klar.
Vertrauen Sie auch darauf, dass sich die entsprechenden Themen Ihnen erst zeigen, wenn Sie gewissermaßen "reif" für die Bewusstwerdung und Bearbeitung der Traumata sind!
So kann es sein, dass Sie schon oft Dokumentationen und Berichte über den 2. Weltkrieg gehört haben, die nichts weiter in Ihnen ausgelöst haben. Und irgendwann kommt der Tag, an dem solche Informationen Sie wie ein Blitzschlag treffen und Ihr Interesse wecken.
5. Wie können Sie transgenerationales Trauma auflösen?
Die beiden oben genannten Punkte Biographiearbeit und Historische Kenntnisse beinhalten schon den ersten Lösungsansatz:
Indem Sie sich damit beschäftigen,
offen sind für den Gedanken, dass es Sie betreffen könnte
in sich hineinfühlen, wo eine Resonanz entsteht.
Allein die bewusste Beschäftigung mit den Themen, Biographien oder der Zeitgeschichte bewirkt schon eine erste Loslösung.
A. Emotionen spüren
Wenn Sie sich psychisch stabil fühlen und möglicherweise schon mit Ihren Emotionen gearbeitet haben, ist es sehr hilfreich, sich in Ihre erlebte Situation als Baby hineinzuversetzen und die Gefühle als jetzt erwachsene Person zu fühlen.
Das Fühlen, bewusste Wahrnehmen und wertfreie Akzeptieren von Gefühlen setzt die Energie frei, mit der dieses Thema in Ihrem Körper gespeichert war.
Wie war es bei Ihrer Geburt? Waren Sie willkommen und sind in einer sicheren Situation zur Welt gekommen?
Wurden Sie in der Zeit nach der Geburt gut versorgt, oder wurden Sie beispielsweise schreien gelassen, weil Sie nach einem strikten Stundenplan versorgt wurden?
Noch bis in die 1970er Jahre hinein gab es die Ansicht, dass Babys, die satt und sauber sind, keine weiteren Ansprüche haben, dass Schreien ein Abreagieren ist und die Lunge stärkt, also gut für das Baby ist.
Viele Eltern haben in der Zeit etwas Gutes für Ihre Kinder tun wollen und leider das Gegenteil, nämlich eine nachhaltige Traumatisierung, bewirkt.
Wenn Sie sich für diese Thematik und einen solchen Arbeitsansatz interessieren, könnte die Arbeit mit dem sogenannten Inneren Kind etwas für Sie sein, das Sie weiterbringt und entlastet.
B. Übertragenes und Übernommenes zurückgeben
Wenn Ihnen klar wird, dass Sie etwas von Ihren Eltern oder Großeltern übernommen haben, können Sie es in einer Visualisierungsübung zurückgeben:
Sehen Sie vor Ihrem inneren Auge sich und Ihre Eltern (Großeltern).
Gibt es ein bestimmtes Alter, auf das Sie sich beziehen möchten? Dann können Sie sich selbst in diesem Alter visualisieren.
Sagen Sie Ihren Eltern oder Großeltern in Gedanken beispielsweise Worte wie diese: "Ich habe dieses Thema, diese Gefühle etc. übernommen, um dir zu helfen. Sie belasten mich und ich gebe Sie in Liebe wieder zu dir zurück."
Es gibt keine richtigen und falschen Worte – wählen Sie die, die Ihnen kommen.
Beobachten Sie, wie sich diese Worte auf Sie und die beteiligten Personen auswirkt.
Brauchen Sie oder Ihr jüngeres Ich noch etwas, um in dieser Situation in einen inneren Frieden zu kommen? Aus ihrer erwachsenen Position heraus können Sie Ihr jüngeres Ich mit allem versorgen, um dieses zufrieden zu stellen.
C. Visualisierungsübung: Die Liebe der Eltern spüren
Wenn Sie feststellen, dass Ihre Eltern – aus welchen Gründen auch immer - nicht in der Lage waren, Sie als Baby und Kleinkind liebevoll und akzeptierend zu umsorgen, kann Ihnen die folgende Visualisierungsübung helfen.
Der Grundgedanke ist dabei, sich die Eltern in einer idealen Version vorzustellen. Als Menschen, die selbst emotional vollständig genährt sind und gut für sich sorgen können.
Nur dann können die Eltern auch ihre Liebe an das Kind weitergeben und für das Kind sorgen, alle emotionalen Bedürfnisse des Kindes stillen.
So können Sie nachträglich eintauchen in das Gefühl, als Baby willkommen, geliebt und genährt zu sein:
Lassen Sie vor Ihrem inneren Auge ein Bild entstehen, das die ideale Version Ihrer Eltern und Sie als Baby zeigt.
Fühlen Sie sich in das Baby hinein:
Wie ist es, von den Eltern willkommen zu sein? Und wie fühlt es sich an, wenn die Eltern sich auf das Baby unvoreingenommen gefreut haben?
Wie fühlt es sich an, vollkommen akzeptiert zu sein als das Wesen und die Persönlichkeit, die Sie sind?
Wie ist es, da sein zu dürfen, seinen Raum einzunehmen, Bedeutung zu haben?
Spüren Sie den Fluss der Liebe von Ihren (idealen) Eltern zu sich und saugen Sie so viel von dieser Liebe auf, wie Ihnen gut tut.
Können Sie problemlos eintauchen in dieses Bild, oder zeigen sich dabei Blockaden, gelingt es auf irgendeine Weise nicht?
Dann können Sie das Szenario verändern und anpassen:
Sie können eine Generation weiter zurückgehen und Ihren Eltern deren ideale Eltern zur Seite stellen. So können Sie Ihren Eltern für diese Übung ebenfalls eine "ideale Kindheit" erschaffen, so dass diese gut genährt und geliebt alle Fähigkeiten entwickeln können, die sie später als werdende Eltern brauchen.
Sie können experimentieren mit einem anderen, früheren Zeitpunkt wie ihrer Geburt oder ihrer Empfängnis. Sehen Sie, wie Ihre ideale Mutter Ihre Seele in Empfang nimmt und bei der Geburt sanft ins Leben begleitet, mit einer schützenden Hand, nährend und emotional ausgleichend.
Fragen Sie sich, ob es eine andere Atmosphäre braucht, oder ein anderes Umfeld. Die Atmosphäre in Ihrer Visualisierung steht für den Zeitgeist und auch das Familiensystem und damit die Familienthemen, in die Sie als neu ankommendes Wesen eintauchen. Sie können experimentieren und einen andere Atmosphäre wählen. Eine, die gekennzeichnet ist durch Liebe und Akzeptanz, eine, in der Sie sich als individueller Mensch mit Ihrem vollen Potenzial entfalten dürfen.
D. Unterstützung suchen
Wenn Sie mit diesen einfachen Methoden der Selbsthilfe nicht ausreichend weiterkommen, ist es sinnvoll, sich dafür die Hilfe eines Coaches oder Therapeuten zu holen. Ganz besonders, wenn Sie das Gefühl haben, Ihr Alltagserleben ist deutlich eingeschränkt und belastet durch die Themen, die Sie mit sich herumtragen.
Eine spezifische Therapie für diese transgenerationalen Themen gibt es nicht.
Mittlerweile sind aber viele Therapeuten sensibilisiert für dieses Thema und integrieren es in ihre Beratung und Therapie.
6. Fazit - eine lohnenswerte Reise in die Vergangenheit
Das Einbeziehen des transgenerationalen Gedankens in Coaching und Therapie hat sich in den letzten Jahren immer weiter verbreitet. Es ermöglicht Lösungen bei Themen, die bislang festgefahren wirkten, wo die Ursachen nicht herauszufinden waren.
Und gleichzeitig ist es möglicherweise für Sie schlicht bereichernd, mehr über das Leben Ihrer Eltern und Großeltern herauszufinden. Es verwurzelt Sie in Ihrer Familie, und gleichzeitig können negative Wirkungen aufgehoben und stärkende hervorgehoben werden.
Gerne begleite ich Sie bei Bedarf auf dieser spannenden und lösenden Reise in Ihre Familien-Vergangenheit!
Herzlichst,
Ihre Bettina Grill
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